Erscheinungsdatum: 1. November 2012
Preis: 11,90 EURO
ISBN: 978-3-9815604-1-1
Die schmatzenden Toten
In mehreren Gegenden ist die Sage von den schmatzenden Toten überliefert. So erzählt man sich im sächsischen Oschatz und in der Freiberger Gegend im Erzgebirge, dass im Jahr 1552 die Pest grassierte. Unzählige Menschen fielen ihr zum Opfer. Die Überlebenden glaubten, aus den Gräbern ein Schmatzen zu hören. Die Toten fingen wohl an, an ihren Kleidern zu kauen und bald würden sie Freunde und andere Menschen ins Grab nachholen. Abhilfe versprach nur eines: man musste die Toten ausgraben, ihnen die Kleider aus dem Mund reißen und ihre Köpfe mit einem Grabscheit, einem spatenähnlichen Werkzeug, abstechen. Auch gänzliches Verbrennen sollte wirken. Geholfen hat es indessen nicht, die Pest wütete noch eine ganze Weile.
Heute geht man davon aus, dass das »Schmatzen« der Toten auf Fäulnisprozesse und die damit verbundene Entstehung und Bewegung von Gasen in Speiseröhre, Magen und Darm zurückzuführen ist.
Sylke Tannhäuser
Friedhofsgeflüster
… „Was war das?“ Lars, der auf der Steinplatte vor der Gruft kniete, richtete sich auf.
Jetzt konnte auch Tobi es hören. Es klang wie ein Schaben. Erschien Satan schon, ohne dass sie die Kerzen angezündet hatten? Ausgeschlossen, sie hatten ja den Blutersatz nicht verteilt, und die Sprüche fehlten ebenfalls noch.
„Wir müssen das Blut auskippen“, wisperte Puk. „Wenn Satan kommt und nichts zu trinken findet, fällt er über uns her und saugt uns aus.“
Tobi spürte einen kalten Schauer seinen Rücken hinabwandern. „Woher....“
„Das hat Harry gesagt.“
Das Schaben war nun lauter. Sie konnten es deutlich hören, dann klackerte es dumpf. Es klang, als ob jemand näher und näher tappte. Ein Ungetüm mit einem Pferdefuß zum Beispiel.
„Das ist er, der Satan“, hauchte Puk und rückte seine Brille zurecht, die bis auf die Nasenspitze gewandert war. Die Plastikflasche war ihm aus den Händen gerutscht.
„Weg hier! Lauft!“, schrie Lars unvermittelt, warf sich herum und stob davon. Puk und Tobi wechselten einen schnellen Blick, dann hetzten sie Lars nach.
Der Kies auf dem Weg spritzte unter ihren Tritten, so schnell rannten sie. „Lass mich vorbei“, keuchte Puk, der hinter Tobi war. „Wir rennen zur Kirche.“
Die Kirche befand sich im vorderen Teil des Friedhofes. Tobi war Weihnachten zu einem Krippenspiel dort gewesen. Da hatte er von der schreienden Clara noch nichts geahnt.
„Warum dorthin?“
„Geweihtes Gebiet, klar? Hat Harry mir verraten.“
Tobi wurde langsamer, und Puk schoss an ihm vorbei. Sie flitzten den Hauptweg entlang. Am Brunnen scherte Puk rechts aus. Klare Sache, eine Abkürzung. Wenn sie schräg über die Grabstellen liefen, waren sie eher da.
Tobi warf einen Blick zurück. Sein Fuß verfing sich in einem Gesteck, und er knallte der Länge nach hin. Dann wurde es dunkel um ihn.
Als er irgendwann die Augen aufschlug, sah er zuerst nur etwas Schwarzes vor sich aufragen. Er hob den Kopf und erkannte, dass er direkt vor einem Grabstein lag. Langsam drehte er sich auf den Rücken. Jede Bewegung schmerzte. Vor seinen Augen tanzten Sterne.
„Puk?“, flüsterte er.
Er bekam keine Antwort.
„Puk, Lars, wo seid ihr?“
Stille.
Mühsam stemmte Tobi sich auf die Ellenbogen. Er wartete, bis das Flimmern vor seinem Blick verschwand und schob sich höher, bis er mit dem Rücken an den Grabstein gelehnt saß. Der Marmor war kalt, Tobi rieb sich die Arme, um die Gänsehaut zu vertreiben.
Unvermittelt hielt er inne. Da war es wieder, dieses Geräusch. Klack – klack. Die Härchen auf seinen Armen richteten sich erneut auf. Was, zum Teufel, war das? Satan bestimmt nicht. Der würde sich nicht damit aufhalten, ewig über den Friedhof zu stolpern, der flog durch die Luft. So hatte Tobi es auf dem Cover von Harrys Film gesehen. Vorsichtshalber suchte er den Himmel ab. Kein herumschwirrender Satan – nur der fahle, dicke Mond schaute auf ihn herunter. Vollmond.
Klack – klack. Jetzt klang es, als ob jemand auf ein Stück Holz hämmerte.
Wenn nicht Satan, wer pickte dann auf dem Friedhof herum wie ein Zimmermann?
…